EU will massiv auf Wasserstoff setzen
Der Vizechef der EU-Kommission sieht den „Green Deal“ als Chance für Europa. Timmermans strebt eine führende Rolle beim Thema Wasserstoff an.
Der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, will die europäische Industrie mit einer CO2-Grenzsteuer schützen, falls andere Weltregionen keine der EU vergleichbaren Bemühungen im Klimaschutz unternehmen. „Wettbewerbsgleichheit muss an der Grenze entstehen, wenn der Markt es selbst nicht schafft“, sagte Timmermans im Handelsblatt-Interview.
Wenn andere Staaten nicht mitzögen, bliebe „keine andere Wahl, als an der Grenze zu korrigieren“. Er sei sich „absolut sicher“, dass die Welthandelsorganisation WTO diese Argumentation akzeptieren werde.
Die EU-Kommission will mit dem von Ursula von der Leyen ausgerufenen Green Deal erreichen, dass Europa bis 2050 klimaneutral wird. Das stellt die Industrie vor Herausforderungen. Klimafreundliche Produktionsmethoden würden beispielsweise die Herstellungskosten von Stahl oder Chemieprodukten erheblich steigern. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie könnte darunter leiden. Mit einer CO2-Grenzsteuer will die Kommission dieses Problem lösen.
Timmermans verbindet mit der angestrebten Klimaneutralität erhebliche wirtschaftliche Chancen für Europa. Das gilt besonders beim Thema Wasserstoff: „Europa kann mit einer wasserstoffbasierten Wirtschaft weltweit führend werden“, sagte er. Grund sei die europäische Infrastruktur, die „besser ist als in anderen Teilen der Welt“. Timmermanns ist in der Kommission federführend dafür zuständig, den „Green Deal“ umzusetzen.
Zudem müsse an alternativen Antrieben in der Luftfahrt gearbeitet, der Schienenverkehr ausgebaut und eine EU-Maut eingeführt werden. Für diejenigen, die im Rahmen der Verkehrswende ihre Arbeit verlieren, sollen durch die Digitalisierung neue Jobs entstehen, sagte Timmermans.
Lesen Sie hier das komplette Interview:
Herr
Timmermans, wenn Sie auf die Stadt vor Ihnen blicken, sehen Sie vor
allem Wohn- und Bürohäuser – und Autos. Sollen die Sektoren Gebäude und
Straßenverkehr in das europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS)
aufgenommen werden?
Wir müssen erst noch ein paar Zahlen
analysieren. Jeder Maßnahme, die wir ergreifen, geht eine
Folgenabschätzung voraus. Ich weiß, diesbezüglich werde ich von manchen
EU-Parlamentariern kritisiert, die wollen, dass wir schnell handeln.
Natürlich stehen Gebäude für einen hohen CO2-Ausstoß. Aber zugleich gibt
es Innovationen, die dafür sorgen, dass die Emissionen reduziert
werden. Wir haben also die Möglichkeit, entweder diese Innovationen zu
unterstützen oder den Sektor in den Zertifikatehandel mit aufzunehmen –
genauso wie den Straßenverkehr. Eine einzige Vorwarnung, die ich
bezüglich des Transportsektors mache: Eine Aufnahme in den ETS ist keine
Alternative für Emissionsstandards bei Autos. Diese im Gegenzug
abzusenken, wird nicht passieren.
Was halten Sie im Rahmen des ETS von einem Mindestpreis für CO2?
Da
gibt es Vor- und Nachteile. Die EU-Kommission ist der Auffassung, dass
derzeit die Nachteile überwiegen. Wir halten daher daran fest, keinen
Mindestpreis zu haben, da der Emissionshandel auch so recht gut
funktioniert. Einen Mindestpreis einzuführen hat dagegen Markt- und
Investitionseffekte, die unserer Analyse nach nicht positiv sind.
Europa hängt beim Thema emissionsfreier Verkehr hinterher. Können wir Asien in puncto Batteriezellfertigung noch aufholen?
Ja, ich denke, dass wir das können. Die Batterie-Allianz, die von Maros Sefcovic, als damals für die Energieunion zuständiger Vizekommissionspräsident, ins Leben gerufen wurde, halte ich für eine gute Idee. Zudem können wir innovativ sein: zum Beispiel weniger Edelmetalle und Seltene Erden nutzen. Außerdem können wir sicherstellen, dass die Batterien mehrfach genutzt und besser recycelt werden können. Wenn wir in Europa Fortschritte machen wollen, müssen wir uns darauf konzentrieren. Für absolut bedeutend halte ich zudem das Thema Wasserstoff.
Inwiefern?
Gerade sind wir in dem Bereich führend
und sollten massiv investieren. Wenn wir das tun, könnte Wasserstoff
wirklich ein großer Teil der Lösung für unsere Energiewende sein. Das
gilt einmal für den Verkehr: Bei Schwertransporten zum Beispiel ist es
sehr schwierig, allein auf Batterien zu setzen. Wasserstoff könnte hier
eine gute Alternative sein. Eine gute Idee sind auch synthetische
Kraftstoffe auf der Basis von Wasserstoff. Zum anderen ist Wasserstoff
eine Möglichkeit, Solar- und Windenergie zu speichern. Passt man unsere
derzeitige Erdgas-Infrastruktur an, können wir diese in der Zukunft für
Wasserstoff nutzen.
Also halten Sie es für richtig, EU-Gelder weiterhin in den Ausbau der Gasinfrastruktur zu stecken?
Europa
kann mit einer wasserstoffbasierten Wirtschaft weltweit führend werden.
Weil unsere Infrastruktur besser ist als in anderen Teilen der Welt.
Aber andere Regionen holen mächtig auf. Auch die Golfstaaten gehen davon
aus, dass eine dekarbonisierte Welt sehr stark auf Wasserstoff
fokussiert sein wird. Und die machen sich natürlich auch Gedanken, wie
sie ihre bestehende Infrastruktur in der Zukunft nutzen können.
Wasserstoff gilt auch als Möglichkeit, dass Fliegen nicht mehr klimaschädlich sein muss.
Es
ist schwer vorstellbar, dass eine Luftfahrtindustrie ohne irgendeine
Form von Treibstoff funktionieren kann. Wenn wir dafür Wasserstoff oder
synthetische Treibstoffe auf der Basis von grünem Wasserstoff nutzen
könnten, wäre das eine Revolution. Die Technologie ist im Prinzip da,
aber wir müssen das im großen Stil machen.
Sie möchten 75 Prozent des Transports von der Straße auf die Schiene und das Wasser umleiten.
Allein
schon, weil die Energieversorgung eine große Herausforderung ist. Lkws
werden jetzt jede Woche betankt. Mit Elektrofahrzeugen muss dies alle
vier Stunden erfolgen. Was wir da eine Infrastruktur für benötigen! Wir
müssen uns an veränderte Umstände anpassen. Deswegen müssen wir auch
mehr in das Potenzial von Wasser und Schiene investieren. Und dafür
brauchen wir eine EU-Maut.
Über die reden wir schon seit 20 Jahren.
Ja.
Aber es ist das erste Mal, dass die Autoindustrie danach fragt, was
interessant ist! Die ganze Idee dieses Übergangs ist, einen Preis für
CO2 festzulegen. Dann müssen wir auch einen Preis für Transporte
festlegen, die mit Kohlenstoff betrieben werden. Einzelne Länder tun das
bereits. Aber eine EU-Maut wäre die beste Lösung.
Der
Grund, warum die Menschen, die innerhalb von Europa unterwegs sind,
nicht auf die Schiene ausweichen, liegt auch darin, dass es zwischen den
Ländern keine vernünftigen Verbindungen gibt. Es ist zum Beispiel ein
riesiger Aufwand mit der Bahn von Brüssel nach Amsterdam oder Luxemburg
zu reisen.
Vollkommen richtig. Über einen langen Zeitraum
hat es an Investitionen gefehlt. Deutschland ist da ein typisches
Beispiel. Aber jetzt denke ich, dass das Land in seinen Zugverkehr
investieren wird. Das wird eine enorme Änderung bewirken, und dann
können wir die Dinge wirklich anpacken. Die Sache müssen wir auch
abgesehen von Investitionen angehen. Wir haben eine
Just-in-time-Wirtschaft. Unternehmen müssen sicher sein, dass ihre
Produkte genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort ankommen. Der Preis
ist dabei weniger wichtig. Derzeit sind Lkws der sicherste Transportweg
in Bezug auf Pünktlichkeit, da Züge sehr oft lange an der Grenze stehen:
Die Lokomotive muss gewechselt werden, es gibt unterschiedliche
Vorschriften, der Zugfahrer ist im nächsten Land nicht zugelassen, et
cetera. Das sind Dinge, die keine Investitionen, sondern Vorschriften
erfordern und bei denen die Kommission sofort handeln sollte.
Um noch einmal auf die Autoindustrie zurückzukommen: Durch die Abkehr vom Verbrennungsmotor werden eine Menge der aktuellen Jobs in der Autoindustrie verschwinden.
Eine industrielle Revolution führt zu Veränderungen. Das war beim Übergang vom Pferd zu Dampf und von Dampf zu Verbrennungsmotoren genauso. Wir sind jetzt in der glücklichen Situation, dass wir aufgrund unserer Demografie tatsächlich jeden in unserer Wirtschaft brauchen – auch für die neuen Arbeitsplätze, die entstehen. Die Herausforderung besteht also nicht darin, ob es Arbeitsplätze gibt, sondern darin, wo diese Arbeitsplätze sind. Die Menschen sollen nicht gezwungen sein müssen, woanders hinzugehen. Auch müssen wir diese Menschen auf eine Weise umschulen, die ihnen das Ausüben würdiger Jobs ermöglicht. Ich habe dies bereits bei Google, Microsoft und Apple angesprochen. Wir müssen die neue digitale Technologie nutzen, um Menschen kontinuierlich zu qualifizieren. Wir müssen sie auch nutzen, um neue Jobs weniger komplex zu machen. Für dieses Ziel müssen wir auch öffentliches Geld in die Hand nehmen.
Wie wollen Sie sicherstellen, dass der Green Deal nicht private Haushalte übermäßig belastet?
Was
ist das wichtigste Instrument eines Staates, um manche be- und andere
zu entlasten? Natürlich Steuern! Alle, mit denen ich gesprochen habe –
Notenbanker, Investoren, der Finanzsektor – sind sich einig: CO2 muss
teurer als alles Nachhaltige werden. Das ist das Einzige, was
Investitionen anstoßen wird. Die Bürger sollen davon nicht die Belastung
tragen müssen, deshalb soll es Steuerentlastungen in anderen Bereichen
geben. Für mich wäre Arbeit der Startpunkt. Aber leider widerstrebt es
den Mitgliedsländern, in Bezug auf Steuern etwas zu ändern.
Eine
Idee, den europäischen Markt mit seiner Klimapolitik vor Nachteilen auf
dem Weltmarkt zu bewahren, ist eine CO2-Grenzsteuer, bei der Emissionen
von Importen bepreist werden. Nur: Wie will man bei einem Produkt, wie
zum Beispiel einem Smartphone berechnen, wie viel CO2 in der
Produktions- und Lieferkette ausgestoßen wurde?
Ich frage
die Industrien immer wieder, wie das funktionieren kann. Sie sind sich
alle einig, dass es nicht so kompliziert sei. Sie machen das schon für
einige Produkte.
Und inwiefern kann eine Klimaabgabe an der Grenze WTO-konform sein? Drohen wir damit nicht, einen Handelskrieg anzuzetteln?
Wenn
wir wollen, dass die Grenzsteuer den WTO-Regeln entspricht, müssen wir
sagen: Ihr alle, wir alle, haben den Pariser Klimazielen zugestimmt. Wir
haben einen Plan, wie wir dort hinkommen. Ihr habt das auch. Wenn wir
miteinander arbeiten, dann wird das Risiko der Verlagerung von
CO2-Emissionen in andere Länder gering bleiben, und dann brauchen wir
keine Grenzsteuer. Wenn ihr aber die erforderlichen Maßnahmen nicht
ergreift, dann steigt das Risiko – und das lässt uns keine andere Wahl,
als an der Grenze zu korrigieren. Wettbewerbsgleichheit muss an der
Grenze entstehen, wenn der Markt es selbst nicht schafft. Ich bin mir
absolut sicher, dass diese Argumentation auch die WTO akzeptieren wird.
Das bedeutet natürlich nicht, dass andere nicht zurückschlagen werden.
Beim Stahl zum Beispiel – wird ein solcher Importaufschlag Auswirkungen
auf die Türkei, die USA oder China haben. Sie werden verärgert sein.
Für
Verärgerung sorgte auch, dass sich Polen von der EU-Gipfelerklärung zur
Klimaneutralität bis 2050 ausklammern ließ. Gibt es für EU-Länder die
Möglichkeit, sich ein anderes Jahresziel, zum Beispiel 2060, zu setzen?
Ich
glaube nicht, dass das geht. Wenn Polen sein eigenes Ziel haben kann,
warum nicht auch andere Mitgliedsländer? Dass wir alle dasselbe Ziel
haben, ist auch ein Zeichen von Solidarität. Solidarität bedeutet nicht,
dass einzelne Mitgliedstaaten besondere Vereinbarungen bekommen;
Solidarität bedeutet, dass wir jeden Mitgliedstaat unterstützen, sein
Ziel zu erreichen. Die Lösung für Polen liegt nicht darin, einen
Aufschub zu gewähren, sondern dass wir mit europäischer Unterstützung
für mehr Investitionen in dem Land sorgen. Steigt zusätzlich der Preis
für CO2, dann verschwindet schnell das wirtschaftliche Argument für
Kohle. Jeder in Polen weiß das. Außerdem: Fragen Sie mal einen
Kohlearbeiter, ob er will, dass sein Sohn auch Kohlearbeiter wird. Die
Antwort wird sicherlich nicht Ja sein.
Manche Länder wollen nun den Kohleanteil ihres Energiemixes durch Atomkraft ersetzen.
Es
ist ganz klar, dass wir manche Energieträger bei der Energiewende
brauchen: Erdgas und natürlich auch Kernenergie. Ich habe nichts gegen
Atomkraft. Ich bin offen für alle Lösungen, solange sie emissionsfrei
sind und uns helfen, bis 2050 klimaneutral zu sein. Das Einzige, was ich
sage: Es ist schrecklich teuer, Atomkraftwerke zu bauen und betreiben.
Ich hoffe, dass sich Mitgliedsländer die Kosten ganz genau ansehen und
dann vielleicht zu dem Schluss kommen, dass andere Möglichkeiten
vorteilhafter sind.
Herr Timmermans, vielen Dank für das Interview.